Blog 6. Aufmerksamkeits-Defizit-Störung “Kind sein – mit tausend Gedanken zugleich”

ADS in meiner Kindheit – Das stille Chaos

Schon als Kind war ich irgendwie „anders“, auch wenn das damals niemand so richtig benennen konnte. Ich war die Träumerin, die oft stundenlang in ihrer eigenen Welt zu versinken schien. Während die anderen Kinder im Unterricht aufmerksam den Lehrern lauschten, malte ich kleine Figuren in die Ränder meines Heftes oder starrte aus dem Fenster und stellte mir vor, ich wäre ein Vogel, der über die Wolken fliegt. Manchmal rief mich die Lehrerin aus meinen Gedanken zurück – und ich erschrak, weil ich keine Ahnung hatte, worum es gerade ging.

Ständig zu viel oder zu wenig

Es war nie so, dass ich einfach „faul“ war. Im Gegenteil: Wenn mich etwas interessierte, konnte ich Stunden damit verbringen, es zu erforschen. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich von Dinosauriern fasziniert war. Ich las alle Bücher, die ich finden konnte, und konnte die Namen der verschiedenen Arten auswendig. Doch sobald es um Mathe oder Grammatik ging, fühlte ich mich wie blockiert. Ich wollte es schaffen, aber die Zahlen und Regeln verschwammen in meinem Kopf wie ein Puzzle, bei dem immer ein Teil fehlte.

Zuhause war ich oft unruhig. Meine Eltern mussten mich ständig ermahnen: „Bleib doch mal sitzen!“, „Warum fängst du etwas an und hörst dann mitten drin auf?“ Ich begann unzählige Projekte – von Basteleien über Spiele bis hin zu kreativen Geschichten – doch selten führte ich sie zu Ende. Meine Kinderzimmerwände waren eine Collage aus halbfertigen Zeichnungen, unfertigen Bastelprojekten und kleinen Notizen, die ich mir selbst geschrieben hatte, um bloß nichts zu vergessen.

Freunde 

Freundschaften waren auch nicht immer leicht. Einerseits liebte ich es, mit anderen zu spielen, andererseits fühlte ich mich schnell überfordert. Ich wechselte oft zwischen Euphorie und Rückzug.

Andere Kinder verstanden nicht, warum ich manchmal so „sprunghaft“ war. Einige fanden es lustig, dass ich im Eifer des Gefechts Dinge vergaß oder mich plötzlich in Gesprächen verlor. Doch ich fühlte mich oft wie ein Außenseiter, weil ich spürte, dass ich irgendwie nicht „mithalten“ konnte.

Die ständigen Verluste

Eine Sache, die mich besonders geprägt hat, war mein chronisches Vergessen. Ich habe unzählige Federmappen, Mäppchen und Turnbeutel verloren – die meisten davon tauchten nie wieder auf. Oft vergaß ich, dass wir Hausaufgaben hatten, oder ich ließ mein Schulbuch im Klassenraum liegen. Meine Eltern und Lehrer waren frustriert, weil sie dachten, ich wäre einfach unorganisiert oder würde nicht aufpassen. Dabei war ich einfach überfordert mit der Flut an Dingen, die ich gleichzeitig im Kopf behalten sollte.

Meine Gefühle als Kind

Ich erinnere mich daran, dass ich oft das Gefühl hatte, nicht gut genug zu sein. Andere Kinder schienen so „normal“

zu sein – sie konnten zuhören, ihre Sachen ordentlich aufschreiben und ihre Aufgaben pünktlich erledigen. Ich dagegen fühlte mich wie in einem ständigen Wettlauf, bei dem ich immer ein paar Schritte hinterher laufe. Dieses Gefühl des Andersseins, dieses ständige Scheitern an scheinbar simplen Dingen, hinterließ Narben. Schon früh hatte ich Angst, Erwartungen nicht erfüllen zu können, und begann, an mir selbst zu zweifeln.

In der Schule wollte ich unbedingt dazugehören, wollte genauso „funktionieren“ wie die anderen, doch es gelang mir nie ganz. Egal wie sehr ich mich bemühte, es gab immer etwas, das ich vergaß, falsch machte oder übersehen hatte. Ich wünschte mir so sehr, „normal“ zu sein, nicht ständig von meinem eigenen Kopf verarscht zu werden.

Die ersten Hinweise, die niemand erkannte

Rückblickend gab es so viele kleine Hinweise darauf, dass ich ADS hatte. Doch in meiner Kindheit wurde es meist als „ungezogen“, „zu sensibel“ oder einfach „unaufmerksam“ abgetan. Lehrkräfte und auch meine Eltern verstanden nicht, warum ich so große Schwankungen in meinen Leistungen hatte – warum ich an einem Tag brillieren konnte und am nächsten komplett abwesend wirkte.

Es gab auch Momente, in denen ich wütend auf mich selbst wurde. Warum konnte ich mir nicht einfach merken, wo mein Stift war? Warum schaffte ich es nicht, Hausaufgaben rechtzeitig zu erledigen, obwohl ich es wirklich wollte? Dieses innere Gefühl des Scheiterns hing an mir und ließ mich oft mit einem dicken Kloß im Hals ins Bett gehen.

Trost in meiner eigenen Welt

Was mich damals rettete, war meine Fantasie. In meiner eigenen Welt konnte ich sein, wer ich wollte – stark, mutig und perfekt. Ich malte mir Geschichten aus, baute Fantasiewelten, die mir die Struktur und Sicherheit gaben, die ich im echten Leben so oft vermisste. Es war mein Rückzugsort, mein sicherer Hafen.

Diese kreative Seite war gleichzeitig ein Geschenk und ein Fluch: Sie ließ mich flüchten, half mir aber auch, in schwierigen Zeiten durchzuhalten. Denn selbst wenn ich mich oft „falsch“ fühlte, war meine innere Welt immer ein Ort, an dem ich mich selbst akzeptieren konnte.

Der Blick zurück

Heute, als Erwachsene, kann ich vieles anders sehen. Mein chaotisches Verhalten, meine Unruhe, mein Vergessen – all das waren keine persönlichen Schwächen. Es war ADS, eine neurologische Besonderheit, die mein Leben von Anfang an geprägt hat.

Würde ich mir als Kind heute einen Rat geben können, wäre es dieser: „Du bist nicht faul, dumm oder falsch. Dein Gehirn funktioniert einfach ein bisschen anders – und das ist okay.“

Mit dieser Erkenntnis und der Diagnose habe ich gelernt, mit mir selbst nachsichtiger zu sein und das Kind, das ich damals war, mit all seinen Eigenheiten anzunehmen. Mein ADS hat mich zwar oft herausgefordert, aber es hat mich auch zu der Person gemacht, die ich heute bin. Und darauf bin ich stolz

Als Kind konnte ich mich nie wirklich in das Bild des „normalen“ Kindes einfügen. Ich war oft in meinen Gedanken verloren, stundenlang verträumt oder völlig vertieft in Dinge, die mich wirklich interessierten. Doch während andere Kinder scheinbar mühelos mit den Regeln der Welt umgingen, war ich häufig überfordert, irritiert und oft frustriert. 

Eine Grenzgängerin zu sein, symbolisiert für mich die Fähigkeit, nicht nur die Grenzen zwischen verschiedenen Zuständen zu erleben, sondern diese auch zu navigieren und zu hinterfragen. 

Grenzgängerin bedeutet für mich auch, dass ich in meiner Kindheit oft an den Grenzen dessen, was als „normal“ galt, entlang ging. Der ständige Druck, mich den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen, war eine Herausforderung. Doch als Erwachsene habe ich gelernt, diese Grenzen nicht mehr als Einschränkungen, sondern mit einer Gelassenheit zu sehen. In einer Welt, die oft klare Linien und Regeln zieht, bin ich eine Grenzgängerin, die sich bewusst jenseits dieser Linien bewegt, um ihre eigene Identität und ihren eigenen Weg zu finden. Vielleicht als Art Rebelliion.

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Blog 5. Aufmerksamkeits-Defizit-Störung “Arbeiten an/mit ADS”

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